Information, Datenlage und Beleg

Wie kann ein Analyst seine Fähigkeit zu kritischen Schlüssen verbessern und wie sieht ein rationaler Umgang mit Informationen aus? Eine denkbare Option sich der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, könnte die Auseinandersetzung mit folgenden Begriffen sein: Datenlage, Information, Beleg, Schlussverfahren, Induktion, Deduktion, Abduktion und rationale Argumentation. Diese Begriffe und vor allem die dahinter stehenden Definitionen und Konzepte werden nachfolgend diskutiert. Sie sollten aus meiner  Sicht  für  den  Analysten  mehr als   flüchtige Bekannte sein, denn sie begleiten den Analysten ständig bei seiner täglichen Arbeit. Daher sollten sie eher wie gute Freunde behandelt werden, die den Analysten unterstützen und herausfordern. Damit diese ständigen Begleiter von (Un-)Bekannten zu guten Freunden werden können, ist es wie bei zwischenmenschlichen Kontakten auch. Es ist erforderlich, dass man ihnen Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Dieser Beitrag möchte dazu einladen, diesen Weg zu gehen.    

Wie verhält es sich nun mit den Begriffen Information, Datenlage und Beleg (engl.: Evidence)? In seinem weit angelegten Informationsbegriff orientiert sich dieser Beitrag an einer Definition der NATO:

„Information stellt Wissen bezüglich eines Objektes[1] oder Verhältnisses (beispielsweise Fakten, Geschehnissen, Dingen, Prozessen, Beziehung, Ideen oder Konzepten) dar, das in einem konkreten Kontext eine spezielle Bedeutung hat.“[2]

Die Datenlage umfasst gemäß dem Verständnis dieses Beitrags alle dem Analysten zur Verfügung stehenden Informationen. Das können beispielsweise Informationen aus Datenbankrecherchen, offener Informationsgewinnung, fertigen Intelligence Produkten, Zeugenaussagen, Protokollauswertungen und so weiter sein. Damit stellt die Datenlage oftmals eine besondere Herausforderung dar, da in Zeiten des Internets potenziell unbegrenzt viele Informationen zur Verfügung stehen. Daraus erwächst die Schwierigkeit, relevante von irrelevanten Informationen zu unterscheiden. Die fundamentale Frage der Relevanz[3] erfordert die Anlegung eines zumindest rudimentären Maßstabs in der Phase der Informationssammlung. Ein geistiges Hilfsmittel, um diesen Maßstab anzulegen, kann die Unterscheidung zwischen Information und Beleg sein. Beleg wird hierbei als Übersetzung des in der englischen Intelligence Literatur häufig verwendeten Wortes Evidence[4] genutzt.

Was ist nun der Hauptunterschied zwischen Information und Beleg? Ein Beleg weist eine inhaltliche Überschneidung beziehungsweise Schnittmenge zur Frage oder Hypothese des Analysten auf. Wie kann so etwas aussehen? Nehmen wir an, ein Analyst der Kriminalpolizei erhält von seinem Vorgesetzten den Auftrag, die Hypothese zu prüfen, dass ein krimineller Clan, im Raum X Schutzgelderpressungen vornimmt. Der Analyst findet bei seiner Recherche eine Information, dass selbiger Clan im benachbarten Raum Y Schutzgelderpressungen vornimmt. In diesem Fall handelt es sich um eine Information, die eine begrenzte Schnittmenge zu seiner Hypothese aufweist. Diese Schnittmenge besteht in dem Wer? (der kriminelle Clan) und dem Was? (Schutzgelderpressung) nicht aber in dem Wo? (Raum X bzw. Y). Bei diesem sehr einfachen Beispiel handelt es sich bei der gefundenen Information also um einen Beleg, den der Analyst nutzen kann, um ihn in seiner Analyse zu verwenden. Welchen Einschränkungen die Nutzung dieses Belegs unterworfen ist und was das für die Nutzung durch den Analysten bedeutet, wird im Abschnitt „Logischen Schlussverfahren“ vertieft. Dort wird auch deutlich, warum es ausgesprochen wichtig ist, die genaue Schnittmenge zu bestimmen beziehungsweise zu kennen.

Was passiert nun, wenn wir es mit einem schwierigeren Fall zu tun haben? Nehmen wir an, derselbe Analyst wird beauftragt, zu bestimmen, welche Personen im Stadtteil X zu Gruppe Y gehören. Hier muss der Analyst zunächst identifizieren, welche Teilelemente die Frage umfasst: Hier zunächst die Personen (das Wer?) den Stadtteil X (das Wo?) und die Gruppe Y (das Was?). Gerade wenn es sich um vermeintlich einfache und beschreibende Fragen, wie die journalistischen W-Fragen handelt, kann es Analysten leicht passieren, dass sie sich direkt in die Arbeit stürzen. In diesem Fall könnte der Analyst direkt mit der Recherche in Datenbanken und offenen Quellen beginnen. Falls der Analyst jedoch nicht lediglich eine Sammlung von Informationen zusammenstellen möchte, sondern nach Belegen sucht, dann ist zunächst ein entscheidender Arbeitsschnitt notwendig: Das Definieren der Fragenbestandteile. Falls der Analyst auf diesen Schritt verzichtet, kann er nicht nachvollziehbar und transparent begründen, warum aus seiner Sicht bestimmte Informationen als Belege genutzt werden – sprich eine Schnittmenge zu seiner Fragestellung aufweisen. Falls der Analyst allein arbeitet, mögen am Ende seiner Analyse trotzdem einheitliche (unbewusste und nicht explizite) Definitionen genutzt worden sein. Aber falls ein Team von Analysten an der gleichen Fragestellung arbeitet, werden wahrscheinlich mehrere (unbewusste und nicht explizite) Definitionen die Grundlage für die Belegauswahl gebildet haben. Denn was qualifiziert beispielsweise dazu, zu einer Gruppe zu gehören? Reicht ein Kenn-Verhältnis zu einem bekannten Mitglied? Oder gibt es vielleicht Initiationsriten, deren Abschluss Voraussetzung für eine vollständige Mitgliedschaft sind? Gibt es unterschiedliche Hierarchiestufen und ab welcher Stufe gehört Jemand vielleicht nicht mehr zur Gruppe, obwohl er der Gruppe vielleicht sogar direkt zuarbeitet? Wie also wird der gefundene Maßstab definiert und wie wird er einheitlich auf die Datenlage angewendet? Erst wenn alle Teilelemente eindeutig, transparent und für alle nachvollziehbar definiert sind, kann mit dem Hilfsmittel der Unterscheidung zwischen Information und Beleg wirklich gearbeitet werden.

Ganz gleich ob der Analyst allein oder in einer Gruppe arbeitet, eine sinnvolle Erweiterung des Hilfsmittels der Unterscheidung zwischen Information und Beleg ist das Führen einer Beleg-Liste[5] für jede zu bearbeitende Fragestellung. Eine Beleg-Liste ist eine Liste mit Informationen, die gezielt hinsichtlich einer möglichen Schnittmenge zur eigenen Fragestellung bzw. Hypothese zusammengestellt wurde. In ihr fließen also jene Informationen zusammen, die durch Anlegen des skizzierten Maßstabs als Beleg qualifiziert wurden. Damit unterscheidet sich eine Beleg-Liste von einer Informationsliste, auf der unterschiedslos Informationen zusammengetragen werden durch das Element der reflektierten Auswahl. Hieraus ergibt sich auch, warum unterschiedliche Fragestellungen jeweils unterschiedliche Beleg-Listen erfordern. So wird eine Beleg-Liste zur Frage nach dem Tätigkeitsfeld einer terroristischen oder kriminellen Gruppierung andere Informationen erfordern (Wer, Was, Wie, Wo, Wozu) als die Frage nach den Motiven derselben Gruppierungen (Warum). Damit kann die Verwendung einer Beleg-Liste auch dazu beitragen, reflektiert in den Analyse-prozess einzusteigen und sich nicht direkt hineinzustürzen.

Und schließlich kann eine Beleg-Liste dem Analysten wertvolle Hinweise darüber liefern, wie groß die Schnittmenge zwischen seinen Informationen und seiner Fragestellung bzw. seiner Hypothese tatsächlich ist. Dieses Wissen ist essenziell, um beurteilen zu können, welche Schlüsse (und damit welche Schlussarten) auf Grundlage vorhandener Belege ableitbar sind.

Abgesehen von dem bereits Skizzierten bietet das Anlegen einer Beleg-Liste aber noch weitere Vorteile. Zunächst erlaubt das Abstützen einer Analyse auf eine Beleg-Liste, dass auch im Nachhinein nachvollzogen werden kann, auf Grundlage welcher Belege der Analyst zu welchen Schlüssen gelangt ist. Damit kann eine entsprechende Liste dabei helfen, Fehler schnell und transparent aufzuarbeiten. Sie kann damit ein Mittel für Qualitätskontrollen durch die jeweilige Institution sein, ohne Opfer eines Rückschaufehlers[6]  zu werden. Auf der anderen Seite können auf diese Weise auch besonders gute Analysen mit zutreffenden Schlüssen identifiziert und für Ausbildungszwecke weiterverwendet werden.7] Sie kann aber auch ein Werkzeug für den Analysten sein, um für sich selbst eigene Schlüsse im Nachhinein hinsichtlich ihrer Qualität zu überprüfen. Wiederrum ohne hierbei Opfer eines Rückschaufehlers zu werden. Auf diese Weise kann sich der Analyst einen institutionellen Rahmen für regelmäßiges Feedback schaffen, um sein eigenes Urteil über die Zeit zu verbessern.

Ebenfalls vorteilhaft wirkt sich eine Beleg-Liste dann aus, wenn eine Analyse im Team durchgeführt wird. Wenn ein Team von Analysten als Arbeits- und Diskussionsgrundlage gemeinsam eine einheitliche Beleg-Liste nutzt, kann von einem einigermaßen einheitlichen Wissensstand ausgegangen werden. Viele Unstimmigkeiten zwischen Analysten gehen nämlich nicht auf unterschiedliche Urteile zurück, sondern auf unterschiedliche Wissensstände. Das kann nicht nur gruppendynamisch schwierig werden, sondern auch Biases[8] verstärken. Insbesondere dann, wenn Einzelpersonen oder Gruppen an den Punkt gelangen, an dem das (unbewusste) Verteidigen ihres Standpunktes zum dominierenden Interesse wird.[9]

Und schließlich sollte in einer Beleg-Liste für jeden einzelnen Beleg auch dessen Qualität bewertet werden. Beispielsweise indem sowohl die Quelle der Information auch als die Information selbst bewertet werden.[10]

Zusammengefasst stellt im Verständnis dieses Beitrags also die Datenlage die Gesamtheit aller dem Analysten zur Verfügung stehenden Informationen dar. Ein Beleg ist diejenige Information, die eine Schnittmenge zur zu bearbeitenden Fragestellung aufweist. Aus dieser Schnittmenge ergibt sich auch die Relevanz einer Information. Um diesen Relevanz-Maßstab anzusetzen, bedarf es einer eindeutigen Identifikation und Definition der Teilelemente von Fragestellung und Belegen. Angelegt an die Datenlage kann das Ergebnis eine Beleg-Liste sein, auf der für Fragestellungen beziehungsweise Hypothesen gezielt Belege zusammengetragen werden.

[1] Duden: Definition Objekt: „Gegenstand, auf den das Interesse, das Denken, das Handeln gerichtet ist.“ Siehe Definition „Objekt“ des Dudens, online: https://www.duden.de/rechtschreibung/Objekt, [Zugriff: 27.02.2020].

[2] NORTH ATLANTIC TREATY ORGANIZATION: AJP 6,  ALLIED JOINT DOCTRINE FOR COMMUNICATION AND INFORMATION SYSTEMS, Edition A, Version 1, 2017, S. 1-2, online: https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/602827/doctrine_nato_cis_ajp_6.pdf, [Zugriff: 23.02.2020], original: „Information is knowledge concerning objects (e.g., facts, events, things, processes or ideas, and concepts) that, within a certain context, have a particular meaning.“

[3] Relevanz wird hier als Unterscheidungsmerkmal zwischen Informationen verstanden und sollte nicht verwechselt werden mit der Relevanz die ein Intelligence-Produkt für seine Adressaten entfaltet. Zum zweitgenannten Verständnis von Relevanz siehe beispielhaft: Voskian, Walter / Pherson, Randolph: Analytic Production Guide – For Managers of Intelligence and Business Analysts, Pherson Associates LLC, Reston: 2016, S. 15 ff.

[4] Der Begriff Evidence wird häufig als „Beweis“ übersetzt. Diese Übersetzung verkürzt aus meiner Sicht jedoch die tatsächliche Reichweite des Evidence-Begriffes.

[5] Fußnote in der Onlineversion gestrichen

[6] Claiming the key items of information, events, drivers, forces, or factors that actually shaped a future outcome could have been easily identified, vgl. Glossary of Cognitive Biases and Inappropriately-Used Heuristics, © 2017 Globalytica, LLC.

[7] Hier muss ergänzt werden, dass für die Nutzung einer vollständigen Analyse für Qualitätssicherungs- oder Fortbildungsmaßnahmen zusätzlich die Anwendung von Strukturierten Analysetechniken innerhalb dieser Analyse erforderlich sein kann, da ansonsten nur ein Teil der kognitiven Arbeit des / der Analysten post mortem nachvollzogen werden kann.

[8] „Kognitive Biases sind unbewusste Fehler des Denkens, die durch unsere vereinfachenden Informationsverarbeitungs-strategien verursacht werden. Sie hindern den Analysten an einem zutreffenden Verstehen der Realität; und das selbst dann, wenn alle notwendigen Informationen vorhanden sind, die für ein zutreffendes Verständnis nötig wären.“ Diese Definition ist eine Mischform der Definitionen und Ausführungen von Richards Heuer und Randolph Pherson. Vgl.  Heuer, Jr., Richards J.: Psychology of Intelligence Analysis, Center for the Study of Intelligence, 1999, S. 111: „Cognitive biases are mental errors, caused by our simplified information processing strategies.“. und Glossary of Cognitive Biases and Inappropriately-Used Heuristics, © 2017 Globalytica, LLC: „They prevent an analyst from accurately understanding reality even when all the needed data and Beleg that would form an accurate view is in hand.“.

[9] Ein Bias der hier typischerweise virulent werden könnte, ist der Confirmation Bias. Dieser beschreibt die Tendenz, nur nach Informationen zu suchen beziehungsweise nur Informationen wahrzunehmen, die die eigene Hypothese, den eigenen Schluss oder das eigene Urteil bestätigen. Vgl. Pherson, Randolph H.: Handbook of Analytic Tools & Techniques, 5th ed., Pherson Associates, LLC: 2018, S. 18.

[10] Hierzu existieren zahlreiche Einteilungen, die in der Regel von der eigenen Organisation vorgegeben sind. Eine mögliche Variante ist die Prüfung des Belegs entlang jeweils dreier Kriterien für Quelle und Beleg.

Zur Quelle: (1) Glaubwürdigkeit (Reliability) – Bewertung über die Zeit und bei schriftlichen Produkten ggf. durch Angaben des Autors selbst (wahrscheinlich, vielleicht…) Kann nur bei Quellenpflege aufgebaut / beurteilt werden. (2) Verhältnis (Proximity) – zwischen Quelle und Information. (Teilnehmer von Konferenzen etc.) Je weniger Stationen zwischen Ereignis und schriftlicher Fixierung oder mündlicher Weitergabe desto besser. (3) Eignung (Appropriatness) – nicht jede Person ist gleich geeignet / qualifiziert, sich zu bestimmten Sachverhalten zu äußern.   

Zur Information: (1) Plausibilität (Plausibility) – Ist die Information auf jeden Fall wahr oder nur unter bestimmten Voraussetzungen? Mit dieser Frage muss der Auswertende kreativ („Idea Generation“) umgehen. (2) Erwartbarkeit (Expectability) ist eine weitere Kategorie, die über die Zeitachse hinweg beurteilt werden muss und bestimmtes Fachwissen beim Auswertenden voraussetzt. (3) Querabgleich / Rückhalt (Support) ist der Abgleich vorhandener Informationen / Belege durch ähnliche Informationen / Belege aus anderen Quellen. Vgl. hierzu: Krizan, Lisa.: Intelligence Essentials for Everyone, Joint Military Intelligence College, Occasional Paper Number Six, Washington DC: 1999, S. 26 ff.

Ihr Autor für diesen Artikel war: Ole Donner